SMV steht für „ständige Mitgliederversammlung“ und ist ein Konzept innerhalb der Piratenpartei, das für eine bessere Abstimmung zwischen Abgeordneten und Basis sorgen soll – eine Art beschlussfähiger Dauerparteitag, und zwar online. Eigentlich, sollte man meinen, für die Piraten die normalste Sache der Welt. Doch weit gefehlt – die Orangen tragen erbitterte Kämpfe deswegen aus. Marina Weisband hat beispielsweise ihr weiteres Engagement für die Partei davon abhängig gemacht, dass dieses Instrument eingeführt wird. Andere, wie der Parteivorsitzende Sebastian Nerz, argumentieren dagegen.
Der Zankapfel, um den es bei der Sache geht, hat mit einer „systembedingten Eigenschaft“ jeder Art von Online-Demokratie zu tun. Denn diese erfordert – zumindest der Software gegenüber – den Verzicht auf einen Grundpfeiler unseres heutigen Demokratieverständnisses: nämlich das Prinzip der geheimen Wahl. Multi-User-Webanwendungen, denen es nicht egal ist, welcher Benutzer was genau tut, benötigen immer irgend eine Art von Authentifizierung. Damit wissen sie aber auch immer, welcher Benutzer was genau tut. Und selbst wenn sie es selber so schnell wie möglich wieder vergessen möchten: in die Datensätze, die sie in ihre Datenbanken schreiben, müssen sie doch wieder die Benutzerzuordnung schreiben. Sonst könnten sie einem angemeldeten Benutzer nicht einmal auflisten, an welchen Abstimmungen er sich beteiligt hat, oder wie er sich bei der Abstimmung verhalten hat. Und Liquid-Democracy-Verfahren wie Delegated Voting, also das Delegieren der eigenen Stimme in einer bestimmten Abstimmung an eine andere Person oder Partei, die in dieser Frage die gewünschte eigene Position vertritt, wäre ebenfalls nicht möglich.
Kurzum: wer Online-Demokratie, Liquid Democracy und all das will, und sei es auch nur, um es erst mal innerhalb einer netz-affinen politischen Partei auszuprobieren, muss sich vom Prinzip der geheimen Wahl verabschieden. Für viele ist das aber gleichbedeutend mit einem Abschied von der Demokratie als solcher. Denn, so argumentieren sie, eine Wahl, bei der zumindest durch Auswertung von gespeicherten Daten herausfindbar ist, wer wie gewählt hat, verhindert mutige Opposition und individuelle Gewissensentscheidungen – also genau die Werte, die an Demokratien so geschätzt werden.
Letztlich müssen wir alle abwägen, wie bedingungslos wir auf dem Prinzip der geheimen Wahl beharren wollen, oder ob uns andere Dinge wichtiger sind – zum Beispiel echte Partizipation an beliebigen Entscheidungsverfahren mit Hilfe einer eigenen, frei einsetzbaren Stimme. Der Haken, um den es bei der SMV geht, und der Zankapfel, um den die Piraten da ringen, ist also alles andere als ein lächerlicher Streit in einer Kleinpartei, die von vielen immer noch nicht ernst genommen wird. Was die Piraten da austragen, ist der Kampf um das Demokratieverständnis angesichts der neuen technischen Möglichkeiten, demokratisches Abstimmen zu organisieren. Geopfert werden soll die geheime Wahl, und gewonnen werden soll damit das ständige Überallmitwählenkönnen.
Um eines noch mal zu klar zu stellen: es ist nicht so, dass zwangsweise am Bildschirm steht: „dies ist das Profil von Emma Müller aus Vorderzarten. Emma Müller hat bei folgenden Abstimmungen teilgenommen und dabei wie folgt abgestimmt“. Aber es ist so, dass die Software, die all das verwaltet, genau das weiß und speichert, und dass es genügt, wenn ein Administrator sein Gehalt aufbessern möchte, indem er gewünschte Datenbankexzerpte an Interessenten verkauft.
Der Graben, um den es bei dem von außen betrachtet scheinbar lächerlichen SMV-Gezänk geht, ist also in Wirklichkeit einer der tiefsten und am wenigsten reflektierten Gräben, die derzeit durch die Bevölkerung gehen. Er hat letztlich zahlreiche andere Aspekte, die vordergründig nichts mit Online-Demokratie zu tun haben. Der Klarnamenzwang in vielen Social Networks beispielsweise, oder die Debatten rund um Google Streetview. Die meisten Menschen fordern einen transparenten Staat, eine transparente Industrie, aber selber möchten sie geheim wählen und in höchstem Maße unidentifizierbar sein. Gerade die Piraten fordern gerne beides. Doch bei einer Online-Demokratie wird letztlich auch der Bürger transparent. Und genau deswegen sind die Auseinandersetzungen so heftig. Die Diskussion dreht sich also letztlich darum, ob unsere tradierten Vorstellungen von Demokratie und Privatsphärenschutz als erstrebens- und erhaltenswert oder als nicht mehr zeitgemäß und unlogisch zu bewerten sind.
Ein harter Brocken also, den die Piraten da verhandeln. Wer möchte, kann sofort an der Verhandlung teilnehmen. Aber nur unter den Bedingungen der Online-Demokratie: https://lqfb.piratenpartei.de/