Insider kennen diese Ausdrücke vielleicht. Ersterer, also Schwarmintelligenz, stammt aus der Biologie und wurde adaptiert. Letzterer, also digitaler Maoismus, ist dagegen eine Eigenprägung. Beide Ausdrücke werden vom amerikanischen Autor und Musiker Jaron Lanier im Zusammenhang mit seiner Kritik an der Web-2.0-Euphorie benutzt. Der Grundgedanke seiner Kritik lautet: wo viele mitarbeiten, kann nichts Eigenes entstehen. Und schlimmer noch: wo viele mitarbeiten, entsteht eine Diktatur der Mehrheit und des Mittelmaßes.
Die Kritik stammt aus einem Essay im Magazin Edge, erschienen Ende Mai 2006 unter dem Titel DIGITAL MAOISM: The Hazards of the New Online Collectivism. Wem der englische Text zu schwierig ist, kann auf eine allerdings gekürzte Übersetzung in der Süddeutschen Zeitung zurückgreifen.
Beim Lesen wird klar: Jaron Laniers Kritik ist nicht das Gezeter eines enttäuschten Nietzscheaners. Seine Kritik kommt nicht vom Aristokraten-Balkon und richtet sich nicht gegen das demokratische Verständnis von Zusammenarbeit. Sie ist nichts weiter als die Kritik, die wir alle kennen und verinnerlicht haben: die moderne demokratische Kritik an Faschismus, Totalitarismus und Machtstrukturen wie im Nazi-Reich, in den sozialistischen Staaten der Nachkriegszeit oder eben im Maoismus.
Doch was hat das nun alles mit Web 2.0 zu tun, dieser eigentlich doch fröhlichen und farbenfrohen Bewegung, bei der fast alles OpenSource und CreativeCommons ist, und wo so viel produktive Vernetzung stattfindet? Ausgangspunkt von Laniers Kritik war die Tatsache, dass im englischen Wikipedia-Eintrag zu Jaron Lanier mehrfach eine Löschung rückgängig gemacht wurde, die Lanier als Filmemacher auswies — Lanier hatte zwar mal einen Dokumentarfilm gedreht, sieht sich selbst aber nicht mehr als Filmemacher. Einzelheiten zu diesem Edit-War finden sich auf der Diskussionsseite zum Eintrag über Jaron Laniera.
Laniers Kritik speziell an Wikipedia geht mir persönlich nicht so recht in den Kopf. Von vielen Leuten zusammengetragene Faktentreue sei nicht alles, was einen guten Text ausmache, sondern die Persönlichkeit eines Autors. Für andere Textsorten würde ich diese Behauptung gerne unterschreiben, doch gerade bei einem Lexikonartikel möchte ich mich eigentlich nicht mit der Persönlichkeit eines Autors auseinandersetzen, sondern möglichst nur verlässliche und allgemeinverständlich dargestellte Information nachlesen. Das ist so wie bei den Bedienungsanleitungen. Wer seine neue Digitalkamera in Betrieb nehmen will, sucht keine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem, der die Bedienungsanleitung dazu geschrieben hat. Er möchte vielmehr einen Text lesen, der möglichst neutral bleibt, schnell auf den Punkt kommt und so strukturiert ist, dass man auch beim Überfliegen schnell das Gewünschte findet.
Wenn ich dagegen ein Blog lese, erwarte ich durchaus, mit der Persönlichkeit eines Autors konfrontiert zu werden. Und in diesem Punkt kann ich Laniers Kritik sehr viel besser nachvollziehen. Er zeichnet das düstere Bild der zunehmenden Aggregation von Inhalten. Viele Blogs plappern in der Tat nur nach, was ihre Betreiber woanders aufgeschnappt haben, und sorgen damit eigentlich nur für aufgeregtes Geschnatter. Dabei wird sich meistens nicht mal die Mühe gemacht, eigene Texte zu formulieren. Es wird einfach nur kopiert, oder — noch konsequenter — es wird nur aggregiert. Dank RSS und Atom ist es mittlerweile jedem möglich, sich konsequent und ganz legal als Meta-Publizist für Fremdinhalte zu betätigen. „Persönlich“ ist dabei nur noch die Auswahl der Fremdinhalte. Aus Sicht des Endnutzers — und dies ist wirklich eine wichtige Aussage in Laniers Kritik — entsteht dadurch zunehmend der Eindruck, die Texte im Netz kämen gar nicht mehr von dingfest zu machenden Personen, sondern würden quasi von der Netzmaschinerie „irgendwie“ von selbst produziert. Niemanden interessiert mehr, von wem oder woher etwas kommt, Hauptsache, es ist zum Lachen, cool oder aufregend neu.
Insgesamt würde ich nicht so weit gehen und hinter den neuen Trends im Web borg-artige Strukturen wittern. Die Strukturen des Webs und selbst diejenigen von Web 2.0 sind so offen, dass auch sehr profilbetonte Persönlichkeiten ihren Platz darin haben können, ohne vom Netz „assimiliert“ zu werden. Allerdings ist es durchaus wichtig, über Aspekte wie die Entmenschlichung von Inhalten durch immer undurchsichtigere Aggregation laut nachzudenken.