Szene 93

Perlen sind selten und werden von feinsinnigen, femininen Menschen geliebt. Seit jeher sagt man Perlen geheimnisvolle Kräfte nach. Der Name „Greta“ bedeutet nichts anderes als „Perle“, und das Mädchen Greta verändert die Welt. Offenbar hat sie Superkräfte. Ihre Mutter meint, dass man solche Kräfte einfach entwickelt, wenn man sich in einer Notsituation befindet. Und Greta befindet sich sozusagen fortwährend in einer Notsituation. Weil sie uns auf eine Wand zurasen sieht, wo wir nur etwas harmlosen Nebel sehen. Auch wenn wir es längst hätten besser wissen könnten. Wir, die ganz normalen Klimakrisenverdränger.

Nur die Klimakrisenleugner sind noch schlimmer. Das sind meist grobschlächtige, maskuline Menschen, die mit Perlen nichts anfangen können. Stattdessen lieben sie den Gestank und das Knattern von Auspuffen. Mädchen und Frauen sind für sie Eroberungen und Besitztümer. Über die fast religiöse Verehrung von Greta lachen und witzeln sie nur. Allerdings sind sie auch irritiert, genauer gesagt, stehen sie unter Schock. Sie hatten den Diskurs und den Ball gekonnt in den eigenen Reihen gehalten. Politiker, Medien und Stammtische diskutierten über Flüchtlinge, Überfremdung und Ausländerkriminalität. Wenn sie unter sich sind, fragen sie sich, wie es passieren konnte, dass ihnen ein Mädchen mit einem Sperrholzschild aus dem Baumarkt den Ball abjagte. Und warum jetzt alle über die Klimakrise reden.

Die Antwort, die sie gefunden haben, ist, dass es Hintermänner geben muss. Grobschlächtige, maskuline Menschen wie sie selber, weil ihrer Meinung nach nur Menschen wie sie selber zu solchen Kräften fähig sind. Fiese Hunde, die sich verstecken und die das zarte Mädchen vorschieben, sein Gehirn waschen und es benutzen. Um Milliardengewinne mit irgendwelchen Sachen zu machen, die nicht mal was mit Auspuffen zu tun haben und irgendwo im Ausland erzielt werden.

Vielleicht liegt es ja an uns, also an den ganz Normalen und Halbfemininen, die dank Greta allmählich aus ihren Klimaverdrängerträumen erwachen, die ganze Sache verständlich zu machen. Denn wir müssen zugeben, dass sich Greta sicher nicht eigenhändig Zutritt zu den Rednerpulten von Katowice, Brüssel, Davos, Straßburg, Rom und London verschafft hat. Allenfalls glauben wir gerne, dass sie ihre Reden tatsächlich selber schreibt. Und die Faszination, die von ihr ausgeht, erleben wir als durch und durch echt.

Meine Erklärung geht so: Greta hat keine Hintermänner, oder genauer, die Hintermänner stehen nicht hinter ihr, sondern vor ihr. Die Hintermänner gehören zu denen, die Greta in ihren Reden angreift. Halbmaskuline Menschen an wichtigen Schalthebeln der industriellen und politischen Mächte, die im Halbschlaf oder Wachtraum eine Perle erblicken und das Mädchen an die Rednerpulte lassen. Stumme Verräter in hohen Positionen von Industrie und Politik, die verstanden haben, dass ihr Spiel gelaufen ist. Für die der Verrat das letzte ist, was sie noch für eine bessere Welt tun können, in der sie irgendwann aufzuwachen und Gnade zu erhalten hoffen. Müde Gestalten aus dem Gruselkabinett, von denen irgendwann jemand so was Legendäres sagen wird wie „Das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich“.

Die Welt muss und wird femininer werden. Wir werden es wohl nicht alle schaffen, Perlen wie Greta zu werden. Aber wahrscheinlich reicht es schon, wenn wir künftig wach bleiben, solange wir am Steuer der Welt sitzen, und Wände nicht für Nebel halten.

So weit meine „Szene 93“. Sie ist mein Dank für die Lektüre der 92 Szenen aus dem Herzen.