Los Indignados begehren auf

Für knapp 4 Euro kann man bei Amazon oder im gut sortierten Buchhandel ein 30seitiges Heftchen mit dem Titel Empört euch! (frz. Original: Indignez-Vous!) erwerben. Es stammt von dem 93jährigen(!) Aufbegehrer Stéphane Hessel. Der „ehemalige Résistance-Kämpfer, Überlebende des Konzentrationslagers Buchenwald, Diplomat und Lyriker“ (Wikipedia) Hessel veröffentlichte die bewusst emphatisch geschriebene Kampf- und Streitschrift im Herbst 2010. Ein halbes Jahr später war das Büchlein bereits mehr als eine Million mal verkauft worden.

In Spanien nennen sie sich «Los Indignados» – „die Empörten“. Eine Bewegung, die sich für eine bessere Integration der vielen arbeitslosen Jugendlichen und Jungerwachsenen in die Gesellschaft einsetzt, und die im Mai 2011 erstmals durch Massendemonstrationen in zahlreichen spanischen Städten auf sich aufmerksam machte. Der Name bezieht sich auf eben jenes 30seitige Heftchen von Stéphane Hessel.

Bis dahin hört sich das alles recht gewöhnlich an. Eine Anleihe, nichts weiter. Auffällig ist jedoch, dass die Demonstranten „echte Demokratie jetzt!“ (Democracia Real Ya!) fordern, und eine grundsätzliche Reform des spanischen Wahlrechts. In den letzten Jahrzehnten hat es immer wieder Massendemonstrationen gegeben, teilweise erheblich größere. Etwa die Großdemonstrationen der Friedensbewegung in den 80er Jahren, oder die Demos gegen den Weltwirtschaftgipfel seit den 90er Jahren. Die „Schuldigen“, gegen die sich die Proteste richteten, waren verbohrte Militärs, korrupte Machthaber und ignorante Wirtschaftsbosse. Mittlerweile setzt man sich aber offenbar stärker mit den Systemen und Strukturen auseinander, die all das ermöglichen – in der Hoffnung, durch Rück- und Neubesinnung auf verfassungsrechtliche und gesellschaftstheoretische Grundlagen die Übel bei der Wurzel zu packen. Das wird deutlich in dem Katalog der Vorschläge, den die spanischen Demonstranten erstellt und in verschiedene Sprachen, auch ins Deutsche, übersetzt haben: Nachfolgend der deutschsprachige Wortlaut:

  • Respekt vor den Werten wie Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und Pluralismus
  • Begrenzung der Umverteilung der öffentlichen Mittel und der Privilegien der öffentlichen Würdenträger. In Korruption Verstrickte dürfen sich nicht mehr zur Wahl stellen
  • Verbesserung des Wahlrechts, sodass Repräsentativität und Proportionalität garantiert werden und keine politische Kraft oder ein öffentlicher Wille ausgeschlossen wird. Schluss mit dem Zwei Parteiensystem, Eintritt kleiner Parteien und Nein zur fünf Prozent Hürde.
  • Stärkung der Mechanismen der direkten Demokratie (Bürgerentscheide) in wichtigen sozio-ökonomischen Entscheidungen und Erleichterung der Einbringung von Gesetzentwürfen
  • Verpflichtung zu einer öffentlichen Vorstellung der Haushaltsentwürfe zur Debatte und Bestätigung durch die Bürger
  • Verbesserung und Bildung von Kontrollmechanismen die die strikte Gewaltenteilung im öffentlichen Sektor garantieren. Absolute Unabhängigkeit der Gerichtbarkeit!
  • Anerkennung der Grundversorgung mit Energie, Kommunikationsnetze, Ernährung und Banken als öffentliche Güter und Verbot von privaten Monopolen in der Bereitstellung dieser
  • Recht auf eine würdevolle, sichere und qualitative Arbeit! Verbot der EREs in Firmen die Gewinn machen! Recht aller Bürger auf öffentliche Leistungen die ein würdevolles Leben garantieren.
  • Einführung von öffentlichen Kontrollmechanismen der Amtsführung um Korruption zu verhindern. Öffentliche Kontrolle der wirtschaftlichen Aktivitäten und Einführung eines Systems das den privaten Gewinn verhindern.
  • Einführung eines progressiven Steuersystems und globale Einführung einer Steuer auf Vermögen und spekulative Transaktionen. Verschwinden der Steuerparadiese!
  • Öffentliche Kontrolle der Aktivitäten von Banken und Verbot der ausbeutenden Klauseln besonders in Bezug auf Hypothekengeschäfte
  • Aufruf zu einer grundlegenden Versammlung (Asamblea Constituyente)

In der Summe wirkt dieser Katalog wie ein hektischer Mix aus Positivismus, Demokratismus, Kommunismus, Populismus und Antikapitalismus. Man wird ihm jedoch nicht gerecht, wenn man versucht, den Veränderungswillen, der sich dahinter verbirgt, auf einzelne Theorien oder geschichtlich-politische Strömungen zu reduzieren.

Im Kern der Forderungen steht zum einen ein neues, erweitertes bzw. verschärftes Demokratieverständnis. Dazu gehört, dass Bürger nicht mehr vorrangig Repräsentanten wählen wollen (Stimmvieh-Funktion), sondern von Beginn an in politische Entscheidungsfindungen involviert werden möchten. Dazu müssen alle Prozesse, die zur Entstehung oder Änderung von Gesetzen oder Regelungen führen, von Beginn an vollkommen transparent sein. Die andere Kernforderung ist die Rückgewinnung der Macht über Geld und Kreditwesen. Die Spirale der Verselbständigung von Banken und Kapital wird als pervers und als vernichtende Krebserkrankung betrachtet. Sie muss unterbunden werden. Wirtschaft muss wieder ein Handeln in der und für die Gesellschaft werden. Gefordert wird also eine soziale Marktwirtschaft, die freies Wirtschaften und Wettbewerb erlaubt, sich dabei jedoch nicht im Interesse beliebiger Profitmaximierung über die Interessen der Bürger und der Umwelt erhebt.

Eines ist allen ebenfalls klar: solche Veränderungen sind nicht auf der Ebene eines herkömmlichen Nationalstaats durchsetzbar. Deshalb ist eine rein spanische „Revolution“ mit solchen Forderungen überhaupt nicht durchsetzbar, selbst wenn es, was kaum zu erwarten ist, gelingen würde, die jetztige spanische Regierung abzusetzen und einen Revolutionsrat in Madrid einzuberufen. Die Revolution muss mindestens gesamteuropäisch werden, sich eng mit demokratisch-revolutionären Strömungen in den islamischen Ländern koppeln und zahlreiche weitere Weltgegenden mitreißen, darunter auch wichtige große Schwellenstaaten wie etwa Indien, Russland oder Brasilien. Das ist sicher auch der Grund für das rasche Aufgreifen der spanischen Proteste in Berlin, Athen und anderswo.

Derzeit erleben wir immer häufiger das Aufblitzen einer sich allmählich formierenden internationalen Bewegung an verschiedensten Orten. Sie ist erkennbar an der Forderung nach einem transparenten Staatswesen mit hochgradiger Bürgerbeteiligung jenseits von Repräsentantenwahlen, sowie nach konsequent sozialer Marktwirtschaft. Dazu kommt eine ausgeprägte religiöse und rassistische Neutralität oder Toleranz. Eine wesentliche Rolle bei der Formierung der Bewegung spielt das Internet bzw. die soziale Vernetzung über Facebook, Twitter, YouTube, einschlägige Blogs und Mobile-Webservices. Denn Stéphane Hessels Büchlein allein kann allenfalls initialzündend wirken. Für Phase zwei, das globale gegenseitige Erkennen und das Organisieren von Protesten, Demonstrationen und Konzepten, wird das Netz benötigt. Phase drei, das Agieren vor Ort, ist dann wieder nur ohne Mausklicks machbar. Allerdings nicht ohne ständige Online-Abstimmung mit Gleichgesinnten und echtzeitnaher Online-Dokumentation von Geschehnissen, die dann in der gut vernetzten Szene weitergereicht werden.

Noch fehlt der Bewegung die kritische Masse, um tatsächlich umstürzlerisch zu sein. Aber die Blindheit einer selbstgerechten Repräsentantenpolitikergeneration und der unersättliche Wahn des Kapitals nach Spekulationsrekorden tun eine Menge dafür, dass diese Bewegung von Tag zu Tag wächst.