In einer Kolumne für für das italienische Nachrichtenmagazin L’Espresso schreibt Umberto Eco 1992 über das globale Dorf: „Es ist nicht global, weil es uns die Illusion erlaubt, daß jedermann unser Nächster sei, sondern es ist global, weil überall auf dem Globus das Gesicht des Feindes hervorlugen kann, der nicht dein Nächster ist, der nicht will, was du willst, und der auch nicht bereit ist, sich mit der anderen Wange zu begnügen, denn er will dich direkt ins Herz treffen.“
Ein vernichtend skeptischer Satz, geschrieben zu einem Zeitpunkt, als der Internet-Boom noch gar nicht eingesetzt hatte. Doch der Begriff des globalen Dorfes von McLuhan ist ja schon älter. Und ein Denker wie Eco braucht keine gesellschaftlichen Massenphänomene, um etwas zu erkennen. Eigentlich ist es ja auch gar nicht so schwer, darüber nachzudenken.
Wenn wir modernen Leute, uns selber ein gewisses kosmopolitisches Bewußtsein beimessend, über das tradierte Dorfleben lästern, dann sind es Begriffe wie Enge, Mief, Filz, Klüngelei, Inzest und geistige Zurückgebliebenheit, die wir damit assoziieren und die uns beim Lästern antreiben. Nun ist es ja heute gar nicht mehr so auf den Dörfern. Die Mehrzahl der Dörfer im heutigen mitteleuropäischen Raum sind im Grunde urbanes Gebiet, ihre Bewohner pendeln mehreitlich in die Städte zum Arbeiten, die Kinder werden in entfernte, gute Schulen gefahren, eingekauft wird auf der grünen Wiese irgendwo im Umkreis von 100 Kilometern, die Kontakte und sozialen Bindungen sind über die ganze Republik und weiter verstreut, und die Dichte der Computer und Internet-Anschlüsse unterscheidet sich nicht von denen in den Innenstädten. Man könnte mit einigem Recht behaupten, wir modernen Leute hätten das alte Dorfleben aus unser aller Leben verbannt, von einigen alten Leuten und Ewiggestrigen abgesehen.
Doch da ist etwas, das im Lästern über das alte Dorfleben mitschwingt, und das uns, wenn man genauer hinschaut, auf erschreckende Weise dort wieder einholt, wo wir es am wenigsten vermutet hätten, nämlich im globalen Dorf. Es ist die Unentrinnbarkeit, die Unmöglichkeit, dem Unliebsamen zu entfliehen. Je weiter wir uns vorwagen mit Flatrates, Instant Messagern, Mobiltelefonie und allzeit möglicher Erreichbarkeit, desto mehr nähern wir uns wieder dem alten Dorfideal. Man kann nichts mehr tun, nirgendwo mehr hin, ohne daß es jemand mitbekommt, weitererzählt und man spätestens am nächsten Tag an den virtuellen Minen erahnen kann, was sie einem insgeheim andichten und unterstellen. Es gibt einfach keine Entschuldigungen mehr, denn man hätte ja mit Notebook und Infrarot oder über eines der überall sprießenden Internet-Cafés eine Mail schicken können.
Um der dörflichen Enge zu entfliehen, sind einst viele begabte Leute, vor allem Jüngere, die plötzlich von neuen geistigen Einflüssen erreicht wurden, in die zunehmend größer werdenden Städte abgewandert. Was die typischen Cityzens, die Stadtindianer, am Stadtleben vor allem schätzen, ist die Anonymität in der großen Menge, die Möglichkeit, incognito zu sein, das Nicht-gleich-Erkanntwerden, was ein Gefühl von Unkontrolliertsein und Liberalität erzeugt. Und hast du dir’s mit einem Kneipenwirt verscherzt, gehst du eben in die nächste Kneipe. Die Identität und Kontinuität der Persönlichkeit leidet zwar darunter, aber die Erfahrung zeigt, daß man ganz gut damit leben kann, in immer mehr Rollen zu schlüpfen, mal als Feinschmecker, mal als Prolet, mal als beschaulicher Kunstkenner und mal als mittreibendes Teilchen im tosenden Strom der Rolltreppenmassen zur Rush Hour. Eben all die verschiedenen Rollen, die man in einer Großstadt einnehmen kann.
Auch im globalen Dorf gibt es vergleichbare Auswege in die Freiheit der Anonymität. So kann man sich im Internet recht gut hinter seinem Bildschirm verschanzen. Man gibt sich einfach eine Phantasie-Existenz, bestehend aus einer kostenlosen Mailadresse, einem Nickname und ein paar leicht erkennbaren Spleens oder Markenzeichen, etwa einer individuellen Zeichenfolge für Unmutsäußerungen oder das bedingungslos entschiedene Eintreten für oder wider irgendetwas („Microsoft“). Mit so einer einfachen Grundausstattung kann man wunderbar sein Unwesen treiben, als Gespenst gewissermaßen, modern ausgedrückt, als Atavar. Die anderen haben es mit einem selbst zu tun, können einen aber nicht greifen und an den Pranger stellen. Ein tolles Überlegenheitsgefühl stellt sich dabei ein. Allerdings sind auch die anderen nicht gerne unterlegen, und so kommt es, daß irgendwann alle im Gespenster-Look daherkommen, ausgestattet mit GMX-Adressen, Nicknames und höchsteigenen, höchstwichtigen, weil bedeutungsunterscheidenden Spleens. Ganze Communities entstehen dabei, die aber genauso wieder zerfallen wie die Schicksalsgemeinschaft von Menschen, die sich in einem U-Bahn-Wagen für die Fahrt zwischen zwei Stationen zusammenfindet.
Wer nicht auf immer Gespenst bleiben will, muß jedenfalls irgendwann die Maske ablegen. Und in manchen Umgebungen, etwa im Geschäftsleben, kommt man als Geist sowieso nicht gut an. Da bleibt nur, mit seinem einen und einzigen Gesicht, das man nun mal hat, anzutreten. Sobald aber die Maske gefallen ist oder nicht geduldet ist, gibt es kein Entrinnen mehr. Der moderne, mit allen Gerätschaften zur Steigerung der Mobilität ausgestattete Mensch ist genauso leicht heimsuchbar wie der Bauer Oberhuber aus dem Kleinhelfendorf des vorletzten Jahrhunderts.
Die Feinde sind natürlich andere geworden. Es ist nicht mehr der Nachbarbauer, der gemeinsame Pfründe für sich allein beansprucht, und nicht mehr der Küster, der einen beim letztjährigen Dorffest in einem Nebenraum mit der Wirtsmagd erwischt hat und einen damit erpressen will – es ist ein Interessensgegner, der einem Fakes ins Homepage-Gästebuch schmiert, oder ein krankhafter Geist, der einem einen Erfolg neidet und einen elektronisch auf Schritt und Tritt verfolgt. Solche unliebsamen Anwesenden können weit weg und in ganz anderen Verhältnissen leben, und die Chance, sich jemals real zu begegnen, kann minimal sein. Dennoch bildet sich die typische, ausweglose Schicksalsgemeinschaft heraus, die zwischen Feinden üblich ist.
Für den Nachdenkenden stellt sich nun die Frage, welches wohl die tieferen Gründe für die rasante Entwicklung des globalen Dorfes sind. Ist es tatsächlich der Glaube an eine neue Kommunikationssphäre, an neue Synergien zwischen Menschen, die sich sonst nie begegnet wären? Oder ist am Ende auch ein Stück verkapptes „Zurück zu den Ursprüngen“ darin verborgen, der Wunsch, wieder die alte Vertrautheit der dörflichen Gemeinschaft und ihre regulative Kraft zu spüren? Zweifellos hat der Drang nach Globalität in Gestalt universaler Mobilität und Erreichbarkeit so eine Janusgestalt. Und vielleicht ist genau diese Doppelgründigkeit das Geheimnis des Erfolgs der rasanten Entwicklung, die das globale Dorf in diesen Jahren nimmt. Die Zeitgenossen, die diese Entwicklung vorantreiben, sehen offenbar beides – in welcher Deutlichkeit auch immer: einerseits den evolutiven Schritt, die ungleich stärkere Freiheit von Raum und Zeit, die das elektronische Kommunizieren kennzeichnet; und andererseits aber auch die neue Nähe zwischen Menschen, die Überwindung des Beliebigen, des verloren Anonymen, der Schattenseite der Städte.
Selbst die neuen Feinde nehmen wir, die elektronischen Dorfbewohner, dafür in Kauf.